Meine MS – Diagnose und Verlauf

  • 2004 rückblickend erstes MS-Symptom: Sehstörung linkes Auge, Taubheitsgefühl in den Beinen und Fingerkuppen. Bis auf das Kribbeln in den Fingerspitzen bildete sich alles zurück.
  • 2012 vermehrtes Stolpern und Umknicken
  • 2014 zeitweise blieben die Füße am Boden „kleben“
  • 2015 Diagnose MS, schubförmiger Verlauf (RRMS)  – EDSS von 2.0: meine Gehstrecke lag bei 6 km.
  • 2017 Verdacht auf SPMS. Gehstrecke etwa 1,5km.
  • 2018 schleichender Verlauf (SPMS) – EDSS von 3.5-4.0: meine Gehstrecke lag Ende des Jahres bei maximal 800m.
  • 2019 meine Gehstrecke lag Anfang des Jahres bei 200m.
  • 06.März 2019: mein Stammzellengeburtstag
  • 19.März 2019: ich werde MS-frei aus der Pirogov-Klinik entlassen

 

 

Wie fing alles an?

Etwa 2012 stellte ich fest, dass ich beim Gehen immer wieder stolperte, auch wenn ich mich bewusst konzentrierte. Im September 2014 konnte ich beim Gehen erstmals meine Füße nicht mehr flüssig vom Boden heben. Ab Januar 2015 bemerkte ich beim Gassigehen, dass ich nach etwa 4km die Steuerung über meine Beine verlor.

Ich vermutete ein mechanisches Problem oder einen blockierten Nerv und suchte einen Orthopäden auf.
Der Orthopäde verwies mich an den Neurologen. Bei dem musste ich mit den Füßen Kreise in die Luft malen. Meiner Meinung nach hab ich das ganz ordentlich gemacht, der Neurologe aber bemerkte die Steuerungsschwäche und schickte mich zum Radiologen ins MRT. Vor diesem Termin lief ich nochmal extra eine riesen Runde Gassi, damit auch ja eine eventuelle Entzündung als Ursache sichtbar würde. Ich kroch danach fast ins MRT. In der Röhre fand ich es trotz der Lautstärke relativ entspannt und bin sogar für einen Moment eingenickt. Zwischendurch wurde mir Kontrastmittel gespritzt.

Anschließend wurde ich zum Gespräch mit der Radiologin gebeten. Diese Minuten haben sich so in mein Gehirn gebrannt, als würden sie gerade wieder passieren…

Sie redete und redete, zeigte mir die MRT-Bilder, sprach von Vernarbungen auf dem Nervengewebe, welche bei MS typisch seien. Und dass einige dieser Vernarbungen akute Entzündungsherde seien, sehe sie an den Stellen, die das Kontrastmittel aufgenommen haben. Bei MS sei dies typisch. MS, immer wieder dieses für mich undefinierbare Detail in ihren Beschreibungen. MS war mir zwar ein Begriff, aber ich konnte das Wort meinen Aufnahmen nicht zuordnen. Deshalb unterbrach ich sie irgendwann mit der Frage: „Aha, ja gut, aber wieso MS?“ Sie sagte dann mit ruhiger Stimme, dass ihr nichts anderes bekannt sei, was ein ähnliches Bild gebe. Daraufhin fing ich an zu Weinen – obwohl ich es noch immer nicht begriff und obwohl es mir schwer fällt vor fremden Menschen zu weinen. Irgendetwas in mir hatte es vor meinem Verstand begriffen, sonst hätte ich nicht geweint. Und gleichzeitig erwartete mein Verstand den Moment, dass sie sagt: „Ach nein, deshalb müssen Sie nicht weinen, ich hab es anders gemeint!“ Aber dieser Moment kam nicht. Stattdessen reichte sie mir ein Taschentuch und sagte: „Es tut mir leid.“
Ich bin dann durch das Wartezimmer aus der Praxis und kann mich bis heute an jedes einzelne Gesicht der wartenden Patienten erinnern. Jeder starrte mich an. Jeder wusste es. So hab ich es damals wahrgenommen.
Ich stand dann auf der Straße und wusste nicht mehr wo mein Auto steht. Es hat vier Stunden gedauert bis ich mich wieder erinnern konnte.

Dies ist ein Moment, den man sich nicht vorstellen kann. Ich denke, jeder erlebt einen solchen Augenblick anders. Und dann folgen Monate und Jahre, in denen man sich selbst komplett neu kennenlernt.

***

Ich hab zunächst an die Tür meines Neurologen gehämmert, der mich sofort ins Uniklinikum Mainz zur Diagnostik überwies. Diese eine Woche in der Klinik kam mir vor wie ein Abenteuercamp. Ich lag mit drei Frauen in einem Zimmer, jede mit eigener Geschichte, jede ihr eigenes Drama – und wir waren alle vier furchtbar gut gelaunt. Vielleicht lag das auch zum Teil an den 5000mg Cortison, das sie mir in dieser Woche in die Vene gepumpt haben. Wir haben gelacht und uns gegenseitig motiviert und uns einfach gut getan. Es wurden alle möglichen Tests gemacht, einige waren mehr als unangenehm. Die Lumbalpunktion beispielsweise oder die Stromleitungstests – jeden Tag Action.

Die Diagnose wurde gestellt und ich wurde mit einer Handvoll Studienberichten über diverse Medikamente entlassen, die die Wirksamkeit in den jeweiligen Studien und die Risiken beschrieben.

Ich kam nachhause und stellte meine Tasche in den Flur. Da war ich wieder. Zuhause. Und jetzt?? Alles wie vorher, immernoch krank. Is ja unheilbar…. – und dann fiel ich in ein unfassbar großes, pechschwarzes bodenloses Loch.

Es folgte die große Qual der Wahl über die Medikation. 3 Ärzte, 5 Meinungen. Was das jeweilige Medikament genau im Körper macht, wie es jetzt also im Detail wirkt… weiss keiner. Das Immunsystem wird irgendwie unterdrückt oder moduliert.. aber wie jetzt genau weiss man nicht. Es verringert die Schubrate etwas.
Ich bin in dieser Zeit regelmäßig schlafgewandelt und habe nach einer braunen Tablette gesucht, die mich heilt. Ich habe Schubladen geöffnet und rumgekramt bis ich dadurch wach wurde – anfangs ziemlich perplex. Irgendwann gehörte dieses Schlafwandeln einfach zu meinem nächtlichen Alltag dazu. Eine braune Tablette gibt es nicht gegen MS, also musste ich anders entscheiden.

Ich habe mich dann schlussendlich für ein Medikament entschieden. Es kam mir vom Wirkmechanismus, zumindest das was man darüber im Ansatz weiß, wie eine Sozialarbeiterin vor. Ich arbeite als Sozialarbeiterin und ich liebe meine Arbeit – also kam mir diese Tablette wie eine Kollegin vor. So hab ich mich für Tecfidera entschieden – aber schlafgewandelt bin ich trotzdem weiterhin regelmäßig.

***

Es folgte eine absolute Trotzphase. Ich wollte diese Diagnose nicht und ich fühlte mich wie ein kleines Kind, das nur laut genug schreien muss, damit die Eltern endlich kapieren, dass es WIRKLICH nicht will! Ich wollte diese MS wirklich nicht!! Danach folgte Verzweiflung.. in der Erkenntnis, dass ich die MS aber behalten muss. Und dass da keiner was machen kann. Das also bedeutet.. unheilbar.

Plötzlich erkennt man nochmal eine ganz neue Art der Definition von einem Problem. Oder eine andere Dimmension. Das war wirklich eine harte Zeit und ich wusste irgendwann, das führt nirgendwohin. Also musste ich aufgeben. Und mich beugen. Und irgendwie optimistisch bleiben.

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Ich habe mich dann sehr viel mit buddhistischen Themen beschäftigt, besuchte oft das Buddhistische Kloster, meditierte und schloss mich dem Buddhistischen Gesundheitszentrum an. Dort ließ ich eine Anamnese machen und stellte daraufhin meine Ernährung um. Viel Reis, kein Fleisch, besondere Gewürze etc. Ich ging zweimal die Woche zur Akkupunktur, was mir gut tat. Und ich versuchte nebenbei irgendwie einen Sinn in der MS zu finden und sie tapfer anzunehmen. Die ganze Sache war sehr kostspielig und die gesetzliche Krankenkasse unterstützt dies nicht. Ich hab dann versucht eine Zusatzversicherung aufzutun, MS ist aber bei durchweg allen privaten Krankenversicherungen ein Ausschlusskriterium. Somit habe eine meine Besuche und die traditionell chinesische Behandlung bald einstellen müssen.

Nach dem Durchforsten spezieller Literatur, habe ich meine Ernährung dann nochmal radikal umgestellt. Diesmal lebte ich über ein Jahr lang ausschließlich ketogen mit dem Ziel eines besonderen Zellschutzes. Das heißt, kein Zucker, keine Kohlenhydrate, kein Alkohol. Ich lebe im Rheingau und ich sag Euch, das mit dem Alkohol war echt hart 😉 – Aber auch ohne Kohlenhydrate: kein Brot, kein Reis, keine Kartoffeln, kein Mehl – auch nicht in Soßen oder Suppen. Ich habe dadurch sehr stark abgenommen und die Ernährung tat mir nicht mehr gut, also habe ich es eingestellt.

Darauf folgte eine depressive Phase. Ich konnte nur noch Mauern sehen und hatte keine Wünsche mehr. Das war eine Zeit, in der ich mir Antideprissva verschreiben ließ, weil ich merkte, dass ich inmitten eines Sumpfes steckte. Ich brauchte ein paar Anläufe, aber die Medikation konnte inzwischen abgesetzt werden.

Dann habe ich von der Stammzelltransplantation erfahren. Das war Anfang des Jahres 2018. Ich googelte mal wieder wortwörtlich: „Wann ist diese sch**** MS eigentlich endlich heilbar.“ Und es erschien ein Artikel von 2017 über den „potenziellen Durchbruch: MS erstmals geheilt“ – ein Wunder! Seither hatte ich mich intensiv mit dieser Therapie beschäftigt und Kontakt zu diversen Kliniken in unterschiedlichen Ländern aufgenommen. Ich wollte geheilt werden! Gleichzeitig hatte ich aber auch sehr großen Respekt vor dieser Therapie, ein Spaziergang würde das sicher nicht… Meine Gehstrecke verringerte sich zunehmend. Ich hatte Spastiken, Konzentrationsprobleme, war immer müde. Wo sollte das schon hinführen? Was für Ziele konnte ich mir in meinem Leben denn eigentlich realistisch setzen? Was durfte ich wünschen? Kinder? Langsam fing ich an mich zu isolieren, weil ich vieles einfach nicht mehr so mitmachen konnte. Ich bin wirklich ein fröhlicher und lebensfroher Mensch, das rettete mir oft den Tag. Aber grundsätzlich trug ich die Bedrohung im Nacken, die mir Energie raubte. Und die Prognose sah einfach schlecht aus, da half der größte Optimismus nichts – auch, wenn die Ärzte weiterhin von einer milden MS sprachen. Stammzelltransplantation! Nachdem diese Behandlung nun auch bei unseren Nachbarn in der Schweiz aufgrund hoher Erfolgsaussichten zugelassen wurde, hatte ich meine Entscheidung getroffen: ich wollte kämpfen und der MS die Stirn bieten! Ich hatte es versucht, mich mit der MS anzufreunden, aber meine MS war eine Bestie, die entsprechend Antwort und Grenze bedurfte. Da half kein Optimismus, da mussten schärfere Geschütze aufgefahren werden: Ich will mein Leben zurück! Bzw. meine Perspektive. Ich wollte wieder träumen und gelassener in die Zukunft blicken. Die Stammzelltransplantation war und ist meine Chance auf Leben!

 

Verlauf

Im Jahr 2004, im Alter von 22 Jahren, wurde ich morgens wach und konnte auf meinem linken Auge nicht mehr klar erkennen. In den Tagen darauf verschlechterte sich dies soweit bis ich die Welt nur noch wie durch ein Negativ-Foto sehen konnte. Gleichzeitig spürte ich die Oberflächen meiner Beine nicht mehr und ein Kribbeln in den Fingerkuppen. Zu dieser Zeit war ich in Afrika; die dortigen Ärzte vermuteten ein unbekanntes Virus. Die Symptome gingen nach wenigen Wochen von selbst. Was blieb war das Taubheitsgefühl in den Fingerspitzen, welchem die Neurologen in Deutschland keinerlei Bedeutung gaben und ich lernte es zu ignorieren.

Ab 2012 stolperte ich zunehmend. Ich führte dies auf allgemeine Schusseligkeit zurück und beachtete es nicht weiter.

Im September 2014 konnte ich beim Gehen erstmals meine Füße nicht mehr flüssig vom Boden heben. Ich war auf dem Weg zur Post. Eine Freundin lief neben mir und ich sagte „hey, guck mal, ich bekomm meine Füße nicht mehr gescheit gehoben… ich kann nur schlurfen.. wie in Schlappen.“ Wir wunderten uns. Aber es tat nicht weh und es regulierte sich bald wieder. 

Anfang 2015 bemerkte ich beim Spaziergang regelmäßig ab einer Gehstrecke von etwa 4km eine Steuerungsproblematik in meinen Beinen. Ich suchte zunächst einen Orthopäden auf, weil ich glaubte, dass mein Becken vielleicht schief steht und so einen Nerv blockiert.

Ich wurde zum Neurologen sowie Radiologen überwiesen. Und erhielt meine Diagnose.

Meine vernarbten Entzündungsherde befinden sich im Schädel sowie vor allem im Bereich der Wirbelsäule. Im Kopf ist jede Menge Platz. Aber die Nervenstränge in der Wirbelsäule sind knapp. Wenn hier was kaputt geht, geht der Schaden nicht einfach so unter. Meine Läsionen liegen also richtig blöd. Besonders die Läsion in der HWS macht mir zu schaffen. Sie ist dafür verantwortlich, dass ich zunehmend Probleme mit den Armen habe. 

Ich habe immer wieder gehört, dass ich die MS annehmen muss. Und dass ich eine leichte MS habe mit vermutlich günstigem Verlauf. Ich habe die MS dann auch tatsächlich angenommen. Das war ein intensiver und irgendwie auch hochkomplexer innerer Prozess. Aber es gelang mir. Ich akzeptierte die MS als einen Teil von mir, der mich vielleicht zu anderen Erfahrungen bringt, die mein Leben vielleicht sogar bereichern. Ja, vielleicht bereichert die MS mich ja irgendwie, dachte ich. Ich bin einfach unverbesserlicher Optimist. Sogar dann noch als ich letztes Jahr erfahren musste, dass meine MS doch nicht so leicht und der Verlauf doch eher ungünstig ist. Ich wollte diesen Kurs des Optimismus halten. Auch aufgrund eines Mangels an Optionen. Wenn man weiß, dass es schlimm wird, man aber keinen Weg sieht das Schlimme zu verhindern, dann muss man es sich schön reden! MS, was für eine wertvolle Erfahrung im Leben. Perspektivwechsel durch den Rollstuhl. Das Leben wird nicht schlechter, nur anders. Diese Sätze halfen mir die Zukunft annehmen zu wollen.

Irgendwann verlief meine MS ohne Schübe, das heißt es bildete sich nichts mehr zurück, sondern es wurde konstant schlechter. Das Tempo war mir viel zu schnell. Von außen sah man es mir kaum an, aber das hätte nicht mehr lang gedauert. Meine Gehstrecke betrug an guten Tagen 800 m, an schlechten Tagen, die zum Schluss blieben, ging ich nur maximal 300m. Meine Beine waren immer so unfassbar schwer.

Meine linke Hand sowieso, aber auch meine rechte Hand fiel dann auch manchmal aus. Ich bin Rechtshänder und manchmal schaffte ich es nicht, meine Unterschrift zu setzen, weil ich den Stift auch mit der rechten Hand teilweise nicht richtig führen konnte.